Betriebsblindheit: Das verkannte iPhone Xr

Ich muss gestehen, ich habe mich im selben Zug gesehen. Du bekommst ein Produkt vorgestellt und dann passen die einige der Spezifikationen nicht. Prompt fällt das Produkt bei dir durch, obwohl du es nie live gesehen und nie in den Händen gehalten, nie ausprobiert hast.

Als Apple das iPhone Xr im September vorgestellt hat, lasen sich auf dem Blatt Papier einige Dinge gar nicht mal so verkehrt.

Großer Akku. Der gleiche Prozessor wie in den teureren Geräten. Selbst die gleiche Front- und Hauptkamera wie in den Xs-Brüdern. Auch wenn die Telelinse fehlt. Damit kann man leben.

Aber dann. Woraus resultiert der Preisunterschied. An welcher Stelle wurde abgespeckt?

Klar, 1 GB weniger RAM als in den Xs-Geräten. Da aber auch das iPhone X mit „nur“ 3 GB daher kommt, sollte auch das vertretbar sein. Die iPhones sind ja ohnehin wahre Performance-Monster.

Der Aufschrei, der durch die Gemeinde ging, war dann das Display. Und wie gesagt, ich zähle mich dazu. Mir ging es dabei nicht mal um die Verwendung eines LCD-Panels.

Ja, OLED arbeitet stromsparender und kann Schwarzwerte perfekt darstellen, aber dafür hat OLED auch nicht die tolle Blickwinkelstabilität wie ein IPS-Panel.

Aber die Auflösung. Die Auflösung ist Stein des Anstoßes. 1.792 x 828 Pixel. Das ist in der Breite etwas mehr als 720p, also gerade mal HD, nicht einmal Full-HD. Sicherlich okay für ein 250 Euro Gerät aber 850 als Startpreis? Hey, du kriegst Full-HD-Panel von Honor und OnePlus für die Hälfte des Geldes, sogar in OLED. Und Apple haut dir so eine „Augenkrebs erzeugende, unterirdisch schlechte Auflösung“ um die Ohren?

Das iPhone Xr als Option war für mich erstmal gestrichen.

Mit Release des Gerätes im Oktober beschäftigte ich mich jedoch noch einmal damit. Die Kritik wegen des „schlechten“ Displays kam nicht nur aus dem Konkurrenzlager von Android, sondern auch aus den Reihen der Apple-Jünger.

Man ist es gewohnt: Smartphones mit FHD, QHD Auflösung, Samsung hat es vorgemacht. Und zu Hause guckst du auf einen 40″ Fernseher, der Full-HD hat. Natürlich sitzt man nicht mit der Nase vor dem Fernseher, sodass Pixel aufgrund des Abstands nicht auffallen, aber mal ganz ehrlich: Du hast vor einem 17″ TFT mit 1366 x 768 gesessen und sogar heute noch haben die meisten Subnotebooks (nicht Ultrabooks!) diese Auflösung bei Displaygrößen von 12″ – 17″ – auch die teuren Business-Maschinen von Lenovo, die mit Preis ab 900 Euro aufwärts aufwarten.

Auflösung ist nicht alles. Auflösung muss bewertet werden nach den Kriterien der Bildschirmgröße und des Abstands der Augen, die auf diesen Bildschirm schauen. Was vor 10 Jahren so überhaupt nicht relevant war, ist heute ein umso aussagekräftiger Faktor: Die Pixeldichte.

Wie viel Pixel werden denn auf einer Fläche des Displays dargestellt. Was nimmt das menschliche Auge davon überhaupt wahr? Ab welcher Pixeldichte erkennt das Auge nicht mehr die beleuchteten Punkte, die ein Bild oder Text auf einem Schirm ergeben?

Wofür ist denn diese Mega-QHD-Auflösung in einem Samsung-Flaggschiff gut? Merkt überhaupt jemand einen Unterschied. Die Galaxy-S-Reihe wird im Full-HD-Modus ausgeliefert, man muss erst selbst in den Einstellungen die Auflösung hochschrauben, wenn gewollt. Und? Merkt das menschliche Auge dann einen Unterschied? Subjektiv suggeriert man sich das wohl ein, aber biologisch ist da nichts rauszuholen, wenn man nicht Geordi LaForge heißt.

Die hohe Auflösung in den Samsung Geräten ist gut für Virtual Reality. Die Gear VR Headsets splitten die Auflösung auf zwei Augen auf, um den räumlichen Effekt zu erzeugen. Auf einem Daumenkinodisplay brauche ich keine 1440p, wenn ich parallel dazu an meinem Laptop bei 17″ mit 1080p arbeite.

Klick gemacht hat es bei mir beim PPI-Vergleich zu anderen Geräten, mit denen ich häufig arbeite: Ein iPad Pro mit 10,5″ Displaydiagonale und einer Auflösung von 2224 x 1668, was einer Pixeldichte von 264 dots per inch entspricht.

Niemand wird bestreiten, dass der Augenabstand zu einem Tablet sich ähnlich verhält, wie zu einem Smartphone. Niemand wird bestreiten, dass das iPad Pro ein schlechtes Display hat, das eine zu niedrige Auflösung hat. Gemeinsam mit 120 Hz Bildwiederholrate und True-Tone bietet das iPad Pro Display eine der angenehmsten Betrachtungsmöglichkeiten auf einen Bildschirm.

Niemand bestreitet das.

10,5 Zoll. Bei 264 ppi.

Vergesst die Auflösung.

Schaut auf die ppi-Zahl.

Der Kindle OASIS Ebook-Reader von Amazon hat ein gestochen scharfes Display, das mit seiner tollen Pixeldichte extrem prädestiniert für augenfreundliches Lesen ist. Die Pixeldichte des Kindle OASIS beträgt 300 ppi.

Das iPhone 6, 6s, 7 und 8 haben eine Pixeldichte von 326 ppi.

Das heißt, obwohl der Kindle OASIS Schrift gestochen scharf darstellt, sodass das menschliche Auge keine Pixel mehr in Buchstaben wahrnimmt, sondern flüssige, ineinander übergehende Formen, wird Text auf einem iPhone 6, 6s, 7 und 8 noch schärfer dargestellt.

Zurück zum iPad Pro: Selbst das iPad Pro stellt Schrift so scharf dar, dass man super angenhem mit dem Gerät arbeiten und darauf lesen kann und problemlos Full-HD-Videoinhalte genießt.

Bei 264 ppi, bei denen das menschliche Auge keine Pixel mehr sieht, solange man Text nicht quasi-unendlich hochskaliert.

Das iPhone Xr besitzt die gleiche Pixeldichte, wie das iPhone 6, 6s, 7 und 8 – nämlich 326 ppi und stellt damit mehr Pixel auf einem Inch dar, als das iPad Pro oder gar der Kindle OASIS oder vergleichbare E-Reader.

Was auf dem Blatt Papier schlecht klingt ist in Wahrheit gar nicht so schlecht, wie es gerne geredet wird. Das ist wie damit zu prahlen, dass sein Auto 300 fahren kann – wenn man es in der Realität nie ausfahren kann, ist diese Geschwindigkeit unnütz. Genauso unnütz wie eine höhere Auflösung oder Pixeldichte auf einem 6,1″ Gerät, wo eine geringere Pixeldichte auf einem 10,5″ für ein extrem angenehmes Schauerlebnis sorgt.

Ich schaue gerne auf das Display des Xr – und ja, wenn ich schräg von unten drauf gucke, wenn es auf dem Tisch liegt, dann ist der Blickwinkel extrem stabil – beim iPhone Xs hingegen gibt es die typische OLED-Blauverschiebung (wenn sie auch nicht so stark ist, wie beim Google Pixel 2 XL, aber sie ist vorhanden!).

Lasst auch das Xr also nicht madig machen von Leuten, die nur nach Auflösung schreien und Datenblätter rezitieren. Schaut euch das Gerät unvoreingenommen im Laden an, falls es euch interessiert.

 

Ein Gedanke zu “Betriebsblindheit: Das verkannte iPhone Xr

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